Wolgograd: Mehr als nur Freilichtmuseum des Krieges

Wolgograd: Mehr als nur Freilichtmuseum des Krieges

Wolgograd verbinden Touristen zunächst mit der, den Zweiten Weltkrieg vorentscheidenden, Schlacht um Stalingrad. In den Köpfen spuken die Bilder der monumentalen Statue für Mutter Heimat, die mit dem Schwert in der Hand, als ewiges Mahnmal hoch über der Stadt thront. Doch die Stadt ist mehr als nur ein zum Museum gewordener Kriegsschauplatz.

Nähert man sich der Millionenstadt an der Wolga mit dem Zug, sieht man sie schon von weitem zwischen Hochhäusern und Riesenrad, gleich neben dem neuen WM-Stadion, stolz und gleichzeitig zornig in die Ferne blicken. Die Mutter-Heimat-Statue ist längst zum Wahrzeichen der Stadt geworden. 85 Meter hoch, alleine das eherne Schwert misst 33 Meter, gehört sie zum Gedenkstätten-Komplex der an die furchtbaren Ereignisse des Weltkrieges erinnert.

Foto: © Michael Barth

Am zentral gelegenen Bahnhof angekommen, findet man sich schließlich in einer Stadtlandschaft aus Stalinistischem Zuckerbäckerstil und prosperierender Metropole wieder. Pulsierender Verkehr zeugt von regem Leben in der Wolgametropole, die nach der verheerenden Schlacht nahezu vollständig zerstört war. Wolgograd hat jedoch noch eine andere Seite – die alte, die den Krieg überdauern sollte und heute Zeugnis von der Geschichte der Region gibt.

Zaren, Deutsche und Kosaken

Von der, zur Wolga hinabführenden, Heldenallee gelangt man bei einem kurzweiligen Spaziergang in die sogenannte Sazarzyner Vorstadt. Dieser Abschnitt der Wolga war Siedlungsraum jener Wolgadeutschen, die unter der aus Sachsen-Anhalt stammenden Zarin Katharina der Zweiten ins Land geholt wurden. Die Bezeichnung „Vorstadt“ ist ein schönes Beispiel für die zahlreichen Begriffe, deren deutsche Namen kurzerhand ins Russische übertragen wurden.

Erbaut wurde Zarizyn im Jahr 1589 als hölzerne Festung, um die Südgrenze des russischen Zarenreiches vor Einfällen kriegerischer Nomaden zu schützen. Etwas versetzt entstanden 1664 schließlich Gebäude aus Stein, nachdem der Vorläufer abgebrannt war. Die neu gegründete Stadt wurde in der Folge bis ins 18. Jahrhundert begehrtes Ziel von aufständischen Kosaken, unter ihnen die legendären Anführer der Steppenreiter, Stenka Rasin und Jemeljan Pugatschow.

Foto: © Michael Barth

Aus dieser Zeit sind heute, außer in diversen Museen, keine Überreste mehr vorhanden. Geht man, von der Heldenallee kommend, nicht am Brunnen der Völkerfreundschaft vorbei die Treppen hinunter zur Wolga, sondern in die westliche Richtung, stößt man schon bald auf einen parkähnlichen Grünstreifen inmitten der Fahrbahnen. Zunächst passiert man ein neoklassizistisches Gebäude, in dem heute die Duma des Wolgograder Gebiets ihren Sitz hat.

Historie trifft Moderne

Am Ende des Grünstreifens markiert ein Denkmal, das an die ehemalige Gründung Zarizyns erinnert, zusammen mit dem, inzwischen trockengelegten, Fluss Zariza die Grenze zur Vorstadt. Links der Brücke über das Flussbett weisen die beiden futuristisch anmutenden Wohntürme die Richtung der künftigen Stadtplanung. Ihnen hat man den romantisch klingenden Namen „Wolgasegel“ verpasst, vermutlich um der nüchternen Realität aus dem Weg zu gehen.

Auf der anderen Seite der Brücke ändert sich plötzlich der Baustil. Hier dominieren Backsteingebäude und deren Fragmente aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Handels- und Kaufmannshäuser, die die Straßen und Gässchen säumen, versprühen ein marodes Flair der Zeit vor dem Bürgerkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Stadt als blühender Umschlagplatz für Waren und Güter aus allen Himmelsrichtungen galt.

Foto: © Michael Barth

Die modernen Glasfronten der Einkaufs- und Multifunktionspaläste, die als Einsprengsel des 21. Jahrhunderts dazwischen entstanden sind, bilden einen surrealen Kontrast zu den historischen Gebäuden. Ein markantes Haus in dem Viertel ist das Kosakentheater an der Ecke Uliza Rabotsche-Kresjanskaja und Uliza Akademitscheskaja, das seit 1992 Aufführungen und Konzerte aus der Welt der legendären Reiterkrieger veranstaltet.

Illusionen, Wünsche und die Geistlichkeit

Ursprünglich diente das rote Backsteingebäude aus dem Jahre 1862 dem Kaufmann und Industriellen A.M. Schlykow als Wohn-und Geschäftshaus. Ab 1910 war hier das IV. Frauengymnasium untergebracht, später bezog die Pädagogische Universität die Räume. Trotz erheblicher Schäden wurde das Haus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder restauriert und gilt als Kulturerbe von regionaler Bedeutung.

Nicht weit davon entfernt, markiert der Schutzengel von Wolgograd den Anfang des Sascha-Fillipow-Parks. Vom Metropolit von Kamyschin und Wolgograd höchstpersönlich ausgewählt, schuf der lokale Bildhauer Sergej Schtscherbakow einen zweieinhalb Meter hohen Bronzeengel auf einer Marmorkugel, in dessen Sockel Wünsche der Bevölkerung eingemauert wurden. Etwas versteckt hinter der Grünanlage befindet sich in der Uliza Balachninskaja 6 die örtliche Synagoge.

Foto: © Michael Barth

Das Judentum in der Region hatte seine Anfänge bereits mit den Chasaren, die im siebten Jahrhundert ihr sagenhaftes Reich zwischen Wolga und Don gründeten, wie archäologische Funde belegen. Im Jahr 1898 öffnete schließlich das erste jüdische Gotteshaus seine Pforten in dem zehn Jahre vorher fertiggestellten Gebäude. Markant sind die Davidsterne, die die Fläche oberhalb der Fenster im zweiten Stock schmücken.

Von der Synagoge aus gelangt man über einen schmalen Fußweg wieder hinab zur Wolgapromenade und dem Wohnkomplex „Wolgasegel“. In der Ferne sieht man den alten Leuchtturm, der heute als Restaurant dient. Vorbei an einem ausgemusterten Feuerlöschboot erreicht man den Wolgograder Flusshafen. Das imposante Empfangsgebäude des Binnenhafens gilt als das größte in ganz Europa und markiert zugleich den Endpunkt dieses Rundgangs.

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[mb/russland.REISEN]