Twer: Etappe auf dem „Zarenweg“

Twer: Etappe auf dem „Zarenweg“

Stellen Sie sich vor, der Zar musste im 18. Jahrhundert geschäftlich, oder auch nur rein privat, von der damals neuen Hauptstadt St. Petersburg in die alte Metropole Moskau reisen. Er setzte sich dazu in seine Kutsche und fuhr die knapp siebenhundert Kilometer durch Wald und Flur. Da der Weg damals allerdings recht holprig war, freute sich der Zar natürlich über jede Station auf seiner Reise, an der er sich die Beine vertreten konnte. Eine davon, ziemlich genau auf halber Strecke, war Twer.

Manche Historiker behaupten, die Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten sei gleichzusetzen mit der Gründung des modernen russischen Staats. In der Tat war die Straße ursprünglich eine Idee von Peter dem Großen, auch wenn erst unter Katharina der Zweiten, im Jahr 1776, mit ihrem Bau begonnen wurde. Es war die erste Straße in Russland mit einer festen Oberfläche aus dicht gewalztem Schotter und vielen Brücken über Bäche, Flüsse und Schluchten.

Ein paar Zaren später, nämlich im Jahr 1830 unter Nikolaus dem Ersten, war die Trasse schließlich fertig. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts befanden sich fast dreißig Poststationen an der „Straße Gosudarjew“, dem „Zarenweg“, wie die Wegverbindung schon bald genannt wurde. Entlang der Strecke, die in etwa der heutigen Magistrale M-10 folgt, befanden sich zeitweise bis zu zwanzig sogenannter „Reisepaläste“, die den Mitgliedern der kaiserlichen Familie vorbehalten waren.

Zu „Reisepalästen“ und Poststationen

Auch wenn im frühen 19. Jahrhundert etliche dieser „Reisepaläste“ bereits wieder als Poststationen fungierten, kann man ihre Schönheit und Pracht, besonders in der Region Twer, auch heute noch an Ort und Stelle bestaunen. Zweifellos ist der bedeutendste unter ihnen der Kaiserpalast in Twer, der im 18. Jahrhundert in der Stadt an der noch jungen Wolga erbaut wurde. In der näheren Umgebung, beispielsweise in Wischnj Wolotschok oder Torschok, finden sich noch weitere dieser Prunkbauten.

Heute gilt die ehemalige Staatsstraße als nationale Touristenstraße, die die Regionen des Leningrader Gebiets, Welikj Nowgorods, Twers und Moskaus verbindet. Die Route umfasst eine Vielzahl von Sehenswürdigkeiten und verfügt über eine ausgebaute touristische Infrastruktur, wie man sie in Russland selten findet. Die unmittelbare Nähe der Objekte zu den beiden Hauptstädten macht die Fahrt auf dem „Zarenweg“ zu einer beliebten Wochenendroute.

Foto: © Michael Barth

Im Zuge der allgemeinen Umtriebigkeit die momentan in der gesamtrussischen Reisebranche herrscht, will man nun im Gebiet Twer den Tourismus entlang der historischen Straße forcieren. Nicht umsonst nennt man die Stadt auch das „Klein-St. Petersburg an der Wolga“. Twer war, neben Moskau und der Hauptstadt an der Newa, der erste große Ort in Russland, der, im Auftrag von Katharina der Großen, nach einem Brand entsprechend dem Zeitgeist umgestaltet wurde.

Nicht von Ungefähr ähnelt der Grundriss den beiden europäischen Metropolen Rom und Paris, waren doch angesagte europäische Baumeister dafür verantwortlich, dem Sitz der Twersker Großfürsten vom 12. bis 16. Jahrhundert eine dreistrahlige Symmetrie und ein frühklassizistisches Gesicht zu geben. Nicht umsonst befand die Kaiserin, dass Twer nach Sankt Petersburg die schönste Stadt des Russischen Reiches sei.

Kleinod an der jungen Wolga

Die ältere Schwester der alten Brücke über die Wolga, die aus dieser Zeit stammt, befindet sich übrigens in der ungarischen Hauptstadt Budapest – es ist die Freiheitsbrücke über die Donau. Das prächtige Stadtpalais Katharinas der Großen, gestaltet von Carlo Rossi und Matwei Kosakow, beherbergt heute ein Kunstmuseum mit Werken von großen russischen Künstlern, wie zum Beispiel Ilja Repin, Isaak Levitan oder Kinstantin Korowin.

Doch nicht nur die Provinzhauptstadt Twer alleine ist eine Reise wert. Vielmehr reiht sich in den Kleinstädten und Dörfern entlang des Verlaufs des „Zarenweges“ im Gebiet Sehenswürdigkeit an Sehenswürdigkeit. Torschok, mindestens acht belegte Jahre älter als Moskau, ist unter anderem Sitz des ältesten Klosters in Zentralrussland, der Abtei Boris und Gleb. Im Freilichtmuseum Wasiljowo hingegen lässt sich das weltliche Leben in einem Dorf des damaligen Russlands nachempfinden.

Auf dem Gelände eines ehemaligen Herrenhauses hat man seltene Beispiele russischer Holzarchitektur zusammengetragen und rekonstruiert, Weit über die Grenzen des Gebiets hinaus bekannt sind die Stickereien aus Goldfäden, einer Handwerkskunst, die seit dem 12. Jahrhundert bis heute überdauert hat. Das Volkstümliche Kunsthandwerk und die Traditionen an der Straße der Zaren zeigen Ausstellungen des örtlichen Museums.

Wischnj Wolotschok, aufgrund seiner Lage an schier unzähligen Wasserläufen und Kanälen sowie mehr als vierzig Brücken als das „Kleinvenedig Russlands“ bezeichnet, ist ein weiteres schönes Beispiel der zeitgenössischen Städteplanung und deren Architektur des 18. Jahrhunderts. Bei einem Stadtbummel stößt man hier auf das älteste Künstlerhaus Russlands, das auf Initiative Ilja Repins im Jahr 1884 auf einer malerischen Halbinsel errichtet wurde.

Museen geben Zeugnis

In einem kleinen Museum, das in einem Betrieb am Stadtrand in Richtung Moskau untergebracht ist, erfährt der Besucher Wissenswertes über Walenki, die typischen Filzstiefel, die untrennbar mit dem russischen Winter einher gehen. Dem Leben Pjotr Tschaikowskjs wiederum ist das Museum in seinem ehemaligen malerischen Anwesen in Klin gewidmet. Fotografien, Skizzen und persönliche Gegenstände dokumentieren das Schaffen des berühmten St. Petersburger Komponisten.

Die Kirche der Geburt der Jungfrau in Gorodnja indes erinnert an den Sieg auf dem Feld von Kulikowo im 14. Jahrhundert. Jedoch bleibt längs der „Zarenstraße“ auch die jüngere Geschichte der Region nicht unerwähnt: In dem Dorf Emmaus erinnert ein Museum an die „Kalinin-Front“, an der sowjetische Truppen im Dezember 1941 die Verteidigung der deutschen Truppen durchbrachen und dadurch in der Nähe von Moskau eine Gegenoffensive der Roten Armee starteten.

Um die Route entlang des „Zarenwegs“ für Touristen auch in den Wintermonaten interessant zu gestalten, bieten die Reiseagenturen im Gebiet Twer bereits Touren mit dem Hundeschlitten sowie Fahrten mit einer historischen Dampflokomotive an. Ein neues Video, das inzwischen auf dem Youtube-Kanal „Welcome Tver“ zu sehen ist, soll zusätzlichen Anreiz zu einer Reise in die Geschichte Russlands schaffen.

[mb/russland.REISEN]