Staraja Russa: Zur Kur bei den Gebrüdern Karamasow

Staraja Russa: Zur Kur bei den Gebrüdern KaramasowFoto: © Michael Barth

Der beschauliche Kurort am Südufer des Ilmensees strahlt eine traumhafte Ruhe aus. Hier drehen sich die Uhren deutlich langsamer und mitunter scheint es, als wäre die Zeit irgendwo im neunzehnten Jahrhundert einfach stehengeblieben. So ganz nebenher ist Staraja Russa sogar ein Hort der Weltliteratur.

„Lange Zeit wanderten die Brüder Slowen und Rus auf der Suche nach neuem Land umher. Da ging der jüngere Bruder Rus bis an den Zusammenfluss zweier kleiner Flüsschen und erbaute Russa.“ So will es zumindest die Legende. Urkundlich wird Staraja Russa erstmals im elften Jahrhundert erwähnt. Anhand archäologischer Funde wird jedoch angenommen, dass enge wirtschaftliche Bande zwischen Staraja Russa und Kiew bereits im zehnten Jahrhundert existiert haben müssen.

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Der etwa hundert Kilometer von Weliki Nowgorod entfernte Ort entstand als Handelszentrum für die hier ansässige Salzsiederei, günstig gelegen am Wasserweg „von den Warägern zu den Griechen“. In den 1970er Jahren ans Tageslicht gebrachte Urkunden auf Birkenrinde belegen eine prosperierende Mineralsalzindustrie in der damaligen Zeit.

Der weiße Schatz vom Ilmensee

Den größten wirtschaftlichen Aufschwung erreichte Russa, wie es damals schlicht genannt wurde, ab dem vierzejnten Jahrhundert. Im sechzehnten Jahrhundert musste der Ort den höchsten Tribut an den russischen Zentralstaat abführen: Eineinhalb Mal höher als den der Hauptstadt Moskau und gleich dreimal mehr als Nowgorod.

1608 wurde Staraja Russa von polnisch-litauischen Truppen weitgehend verwüstet. Im Juli 1611 besetzte das schwedische Heer Staraja Russa. Die Eroberer errichteten am Zusammenfluss der beiden Flüsse eine Festung, um ihre Positionen in der Stadt zu untermauern. Die Schweden hatten jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Die Bürger der Stadt revoltierten. Erbittert stemmte sich eine aus 2.500 Mann bestehende Bürgerwehr erfolgreich gegen die Besatzer.

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Die Schweden zogen zwar wieder ab, jedoch blieben von den ursprünglich 25.000 Einwohnern der Stadt gerade noch achtunddreißig am Leben. Nach einer Feuersbrunst im Jahr 1763 wurde die Stadt mit steinernen Häusern wieder aufgebaut und erwachte allmählich zu ihrem zweiten Frühling. Ab 1828 erfuhren die Salinen von Staraja Russa eine gänzlich neue Blüte. Die Salzgewinnung wurde vollends eingestellt, an ihrer Statt entstanden nun Moorbäder.

Dazu wurden mehrere Heilwasserquellen auf Anraten des Leibarztes des Kaiserhofes im Stadtgebiet erschlossen und der Ort führte fürderhin das Attribut „Kurort“ in seinem Namen. Die Solebäder zog alsbald die Haute Voilè in den Ort, Adelige und Industrielle gaben sich in Staraja Russa die Klinke in die Hand, um mit dem jodhaltigen Wasser ihre Lebensgeister zu reanimieren.

Das Moorbad der St. Petersburger Haute Voilè

Eher von der Großstadt heilen wollte sich dagegen ein prominenter St. Petersburger. Kein Geringerer als Fjodor Dostojewski verbrachte ab 1872 mit seiner Familie in dem heilsamen und behaglichen Umfeld die Sommermonate. In dem beschaulichen Kurort beobachtete er aufmerksam das Leben in der russischen Provinz, nicht zuletzt, um Antworten auf die brennenden Fragen seiner Zeit zu finden.

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In seinem Häuschen am malerischen Ufer der Porusja verfasste Dostojewski seine Romane „Die Dämonen“ und „Der Jüngling“. Außerdem widmete er sich hier auch wieder einem seiner opulenten Werke. Er vollendete in Staraja Russa sein mittlerweile weltberühmtes Gesellschaftsdrama „Die Brüder Karamasow“ und ließ seine Protagonisten an den hiesigen, realen Orten agieren.

Der Literat, dessen gesellschaftskritischer Roman im fiktiven Städtchen Skotoprigonjewsk spielt, erzählt somit aus dem Ort seiner Sommerfrische. Der Kaufmann Plotnikow bot seine Waren am heutigen Revolutionsplatz an, Gruschenki wohnte in der Nabersechnaja Glebowa 25 und die Jekaterina Werchowzewa ließ er in der Uliza Karla Marksa 5 leben.

Kurort mit charmanter Patina

Wie nicht anders anzunehmen, blieb auch Staraja Russa nicht von den unseligen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs verschont. Nach heftigen Kämpfen fiel die Stadt am 8. August 1941 in die Hände der deutschen Wehrmacht und wurde bis Februar 1944 von den deutschen Truppen besetzt. Südöstlich von Staraja Russa tobte die Schlacht um die „Festung Demjansk“und erst im Zuge der sogenannten „Leningrad-Nowgoroder Operation“ wurde Staraja Russa durch die Sowjettruppen befreit.

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Noch heute findet man in der Umgebung entlang des Ufers des Ilmensees unzählige Soldatenfriedhöfe, die, unterstützt durch freiwillige Helfer aus Deutschland, als Mahnmale unterhalten und gepflegt werden.

Obwohl Staraja Russa heute mit 33.700 Einwohnern die drittgrößte Stadt im Nowgoroder Gebiet ist, unmittelbar an der Bahnlinie von Waldai nach Pskow liegt und mit dem Bus aus Nowgorod bequem erreicht werden kann, blieb es ein ruhiger Kurort mit einer charmanten Patina. Die russischen Gäste entschleunigen sichtlich, Fremde Touristen sucht man hier nahezu vergebens. Es gibt keine Shoppingmals, man ist bewusst weit weg vom Großstadtgewusel.

In Staraja Russa kann sich der Besucher in die Zeit der großen Bäder entführen lassen, im großen Kurpark lustwandeln und dabei zusehen, wie die Uhren langsamer gehen. Natürlich gehört hier zur Kur auch die Kultur: In Dostojewskis Sommerhäuschen am Nabereschnaja Dostojewskogo 42 ist heute ein kleines Museum zu Ehren des Literaten untergebracht, sein Denkmal findet sich unweit in einem kleinen Park.

[mb/russland.REISEN]