Es ging schon ein innerliches Stöhnen durch den Rezensenten, als ihm ein erneutes Buch mit der „Suche nach der wahren russischen Seele“ im Untertitel zur Besprechung angetragen wurde. Denn hierzu gibt es schon Tonnen mittelmäßiger Literatur. Aber dieses Buch ist keine. Tatsächlich ist „Mein Russisches Abenteuer“ von Jens Mühling wirklich ein sehr spannender Reisereport über mehrere langfristige Aufenthalte des Autors in Russland bis hin zur Steppe und Taiga Sibiriens.
So liest sich das Buch spannend wie ein Roman. Der Autor, ein sehr Russland-kundiger Journalist des Tagesspiegel, schlägt seinen reisenden Bogen von Kiew über Moskau, Sankt Petersburg bis nach Sibirien und in den Ural. Er ist auf der Suche nach interessanten Extremen, von denen er aus der Presse gehört hat und solche gibt es in Russland zuhauf. Einen falschen neuen Christus im mückenverseuchten Teil Sibiriens, Altgläubige, die fast alles Moderne bis hin zur Strichcode-Ware ablehnen, die in einer Pathologie-Schublade Jekaterinburgs liegen gebliebenen Gebeine von zwei Mitgliedern der ermordeten Zarenfamilie – das Buch liest sich wie ein Krimi und der unbedarfte Deutsche kommt aus dem Staunen gar nicht heraus.
Geschickt stellt der Autor verschiedene Extreme kurz hintereinander gegenüber. Gerade noch bei Slawen zu Gast, die absichtlich in das vorchristliche Heidentum zurückgefallen sind besucht er als nächstes Sankt Petersburg auf der Spur des wohl wichtigsten Neuerers in der russischen Geschichte, Peter dem Großen. Gerade erfolglos auf der Suche nach einer verschollenen Einsiedlerin in der Taiga gescheitert, kehrt er in den zivilisierten Teil des Ural zurück und berichtet von dortigen interessanten Ausgrabungen aus grauer Vorzeit.
Die ständige Schilderung von Extremen auch für russische Verhältnisse ist denn auch der einzige Vorwurf, den man Mühling machen muss. Vor allem, weil er nicht deutlich macht, dass es sich auch für Russland hier um Extreme handelt. Die Leute und Stätten, die Mühling sucht, sind das Unglaubliche, das Radikalste, was man in Russland aus mitteleuropäischer Sicht finden kann. Es sind Dinge, die auch für russische Verhältnisse sehr ungewöhnlich sind, was im Buch aber nicht so dargestellt wird. So taugt „Mein Russisches Abenteuer“ sehr gut zur Unterhaltung für Russland-Interessierte, egal wie viel man über das Land weiß. Jedoch taugt es nicht, um Unerfahrenen ein korrektes Bild Landes zu geben, ja birgt die Gefahr der Schaffung neuer Klischees. Vom heutigen russischen Alltag enthält es wenig.
Es ist ein wenig, als würde man sich den russischen Straßenverkehr über eine Serie spektakulärer Unfallvideos näher bringen wollen. Mühlfelds Gesprächspartner, wie der vorgebliche Nachkomme des eigentlich im Kindesalter ermordeten letzten russischen Thronfolgers, sind auch in Russland Sonderlinge. Dies sollte man beim lesen nicht vergessen. Ob man die russische Seele in russischen Extremen findet, sei ebenfalls dahingestellt. Würde man die deutsche „Seele“ finden, wenn man germanische Neuheiden, Freikirchen-Aktive und einige abgedrehte Berliner Künstler besucht, um dem Goethes Lebenslauf gegenüber zu stellen? In der Tat würden sie etwas über deutsche Eigenarten verraten, wie auch Mühlfelds Buch, aber hauptsächlich zwischen den Zeilen und nicht als Abbild der Gesellschaft. Zugute zu halten ist dem Autor jedoch, dass er die „Seelensuche“, anders als andere, nicht in Moskau, sondern im Reich „jenseits des Autobahnrings“ betreibt, wo Russland in der Tat wesentlich russischer ist, als in seiner Hauptstadt.
Gut unterhalten wird man vom „Russischen Abenteuer“ aber auf jeden Fall. Es gehört ja auch zum Reiz von Russland, dass es hier Dinge gibt, die man überall sonst für unmöglich halten würde. So auch das Finale von Mühlings Buch, das Auffinden einer jahrzehntelang der Außenwelt unbekannten Einsiedlerin. Diese lebte als Überbleibsel einer vor den Sowjets in die Taiga geflohenen Altgläubigen-Gemeinde heute noch dort, mit minimalem Kontakt zur übrigen Welt. Doch auch hinter ihr fand Mühlfeld noch Legenden über noch weiter in den Wald Geflohene und bis heute Verschollene, die ins Fantastische reichen.
So ist „Mein russisches Abenteuer“ eine unbeschränkte Leseempfehlung für jeden, der schon ein wenig über Russland weiß und etwas über unglaubliche, aber wahre Extreme des Landes erfahren will. Wer keine Vorkenntnisse über das Land hat, wird ebenso gut unterhalten, sollte sich aber immer vergegenwärtigen, dass er hier nicht über das durchschnittliche Russland informiert wird. Sonst könnte beim ersten Moskau oder Sankt Petersburg Besuch die Enttäuschung folgen, wie „normal“ viele Dinge in Osteuropa doch sind.
Daten zum Buch: Jens Mühling, Mein Russisches Abenteuer, auf der Suche nach der wahren russischen Seele; Dumont Verlag, Köln 2013, ISBN 978-3770182589
Roland Bathon – russland.RU