[von Daria Boll-Palievskaya] „Reportagen aus dem wilden Osten“, „Durch Russlands Weiten“, „Weites Land“, „Russki extrem“, „Mein russisches Abenteuer“, „Russland to go“ – Jahr für Jahr erscheinen in Deutschland unzählige Bücher über Russland. Am beliebtesten sind die Reiseberichte über das riesige, ewig geheimnisvolle, gefährliche und unberechenbare Land. Ein Land, über das jedes deutsche Kind weiß, dass dort „das Putin Regime“ herrscht, es dort immer kalt ist und Wodka in Strömen fließt.
Mit einem Motorrad, zu Fuß, mit der Bahn, nur einige Monate oder Jahre – die deutschen Autoren bereisen Russland auf jede erdenkliche Weise und scheuen keine Strapazen, um „dieses rätselhafte Land“ zu begreifen. Stephan Orth hat sich eine ganz besondere Art zu reisen überlegt – er wollte zu Hause bei Einheimischen wohnen und von ihnen hören, was sie von Russland halten. Das Buch „Couchsurfing in Russland. Wie ich fast zum Putin-Versteher wurde“ ist eine unterhaltsame und leichte Lektüre über das heutige Russland. „Jede neue Begegnung soll ein Puzzleteil sein“, erklärt der Autor. Und er möchte zum Putin-Versteher werden, „weil ‚verstehen’ nichts Böses ist“. Also ist er bei verschiedensten Menschen von Moskau bis nach Grozny, von der Republik Altai bis nach Wladiwostok, von Wolgograd bis nach Elista abgestiegen, hat mit ihnen geredet, gefeiert, getrunken, diskutiert. Auch auf die Krim ist er gereist.
Orth ist ein guter Zuhörer und ein guter Beobachter. Der Leser erfährt nicht nur darüber, wie die Russen leben, sondern auch, wie sie den Westen bzw. Westeuropa sehen: „Für sie ist der Kontinent ein kühles Machtkonstrukt ohne Moral und Leidenschaft, der trotz eigener Fehltritte eine starke Tendenz hat, im Namen der Menschlichkeit andere belehren zu wollen“. Und auch dafür, wie sich die russische und die deutsche Mentalität unterscheiden, hat Orth ein richtiges Gefühl. Sein Dialog mit einer russischen Mitreisenden würde gut in ein Theaterstück passen, das beschreibt, was typisch deutsch und was typisch russisch ist:
Deutschland: „Lass uns einen Plan machen, falls wir angehalten werden.“
Russland: „Wenn du dir zu viele Sorgen machst, geht es garantiert schief.“
Deutschland: “Ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn wir einen Plan hätten.“
Russland: „Hey. Wird schon gut gehen.“
Im Laufe der Reise entdeckt der Autor spannende Wahrheiten und nummeriert sie auch. Die Wahrheit Nr. 20 lautet z.B.: „Bei der großen Mehrheit russischer Inlandsflüge kommen sämtliche Passagiere und Crewmitglieder lebendig ans Ziel“. Oder: „Russlands Dienstleistungssektor ist besser als sein Ruf“ (Wahrheit Nr. 13). Alkohol, Domostroj, Okroschka, Unterführung, Yandex, Zapoi – das sind Begriffe, die Stephan Orth in einem kleinen, im Buch gestreuten ABC zusammenfasst, und die ebenfalls bestens dazu beitragen, den russischen Alltag und die russische Kultur zu verstehen.
„Werde ich mir jetzt T-Shirts bestellen, auf denen „Putin-Versteher“ steht? Nein. Aber ich verstehe, wie Putins Land funktioniert, was seine Popularität ausmacht“. Doch hat Stephan Orth. nicht am Anfang des Buches angekündigt, er möchte „Phänomen Putin und seine Wirkung auf die Menschen“ verstehen? Warum denn dann kein T-Shirt? Wenn verstehen nichts Böses ist? Wie dem auch sei, wer schrille russische Charaktere kennenlernen, den russischen Fahrstil hautnah erleben, etwas über die russische Geschichte und russische Empfindsamkeiten und etwas darüber erfahren möchte, wodurch sich der Wodkarausch von „anderen Räuschen“ unterscheidet, dem ist das Buch „Couchsurfing in Russland“ wärmstens ans Herz zu legen.
Stephan Ort: Couchsurfing in Russland, Malik (Piper Verlag) 2017, 250 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN: 978-3890294759