Der Tourismus in Russland hinkt zwar den Erwartungen noch etwas hinterher, aber dennoch erfreuen sich der Goldene Ring um Moskau, die abgeschiedenen Seen nördlich von St. Petersburg und seit neuestem die Krim immer mehr Beliebtheit. Es gibt jedoch seit langem einen Bedarf, den so noch kein Reisebüro anbietet – den anomalen Tourismus.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 hat man sich gegenseitig kennen und schätzen gelernt. Den Besuchern wurde klar, dass es ein wunderschönes Russland hinter der Fratze der politischen Antipathie des Westens gibt und das Land sah sich plötzlich mit einem ungeahntem Potenzial an Gästen konfrontiert. Diese WM hat möglicherweise die Brücke für den Wirtschaftszweig Tourismus geschlagen, auf den Russland schon so lange wartet.
Bei Behörden und Tourismusämtern, bei Touristikexperten und Reiseveranstaltern hat man Blut geleckt. Der Baikalsee und das Altai-Gebirge, die Schwarzmeerküste des Kaukasus und die Berge der Krim harren nun gleichermaßen darauf, erschlossen, vermarktet und attraktiv gemacht zu werden. Ein möglichst großes Publikum soll angezogen werden, auf dass der Rubel rolle. Indes tummeln sich bereits Tausende von touristischen Exoten an Orten, die jenseits von Baedeker und Co zu finden sind.
Mysteriöse Orte fernab der Badestrände am Schwarzen Meer
Es handelt sich hierbei um die anomalen Reiseziele, wie sie in der Branche gern genannt werden. Orte, denen etwas Mystisches, etwas Jenseitiges anhaftet und deren Beliebtheit seit Jahrzehnten eine eigene Dynamik angenommen hat. Russland ist voll von diesen Kultstätten für Grenzwissenschaftler und Reisende ins Übernatürliche, heilige Stätten für Hellseher, Pilger und Ufologen sowie umtriebigen Alt- und Jung-Hippies auf der Suche nach dem Sinn des Lebens oder einfach nur nach sich selbst.
In der Regel sind dies Orte an denen Meteoriten vom Himmel gefallen sind, verlassene Militäreinrichtungen, Bergpässe oder Höhlen, um die sich Legenden ranken. In den Steppen südlich des Tscheljabinsker Gebiets liegt beispielsweise die antike Siedlung Arkaim. Eine uralte ringförmige Festung mit Blick auf die Sterne, von der eine überirdische Kraft ausgehen soll. Oder etwa das Ukok-Plateau im Altai, das seit langem von mongolischen, burjatischen und tuwischen Buddhisten als heilig verehrt wird.
Populäre Reiseziele für touristische Exoten
Nicht minder beliebt sind Orte, die einen gewissen nekrophilen Voyeurismus bedienen. Beliebt sind unter anderem die berühmten Labyrinthe, Überreste alter Grabbauten, auf den Solowezki-Inseln. In der Region Rostow kursieren viele Legenden über die unterirdischen Katakomben von Aksai, die Raubgräber, Mystiker oder einfach nur Abenteurer anziehen, jedoch keine normalen Touristen. Abnormaler Tourismus im Kleinen ist das, was sich bei Teenagern als Mutprobe während nächtlicher Wanderungen auf Friedhöfen oder abgelegenen Hainen abspielt.
Die Behörden erinnern indes daran, dass nicht an alle interessanten Orte ohne die dazugehörige Erlaubnis vorgedrungen werden kann. Dies gilt insbesondere für „künstliche Anomaliezonen“ – ehemalige Militärbasen, Industrieanlagen oder Testgelände für militärisches Gerät. Laut Rechtsanwältin Tamara Kutsenko könne die „Illegale Durchdringung des geschützten Objekts“ nach Artikel 215.4 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen.
Strafanzeige oder bleibender Schaden
Der Okkultist Wadim Tschirwin hingegen warnt vor ganz anderen Gefahren: „Eine anomale Zone beeinflusst den psychischen und physischen Zustand einer Person auf eine absolut ungewöhnliche Weise. So kann eine Person auf tiefe Empfindungen stoßen, die ihr vorher unbekannt waren. Dabei können ihre gesunden mentale Prozesse verletzt werden.“ Seiner Meinung nach könnten die Erfahrungen in der anomalen Zone, denen der Besucher psychoenergetisch nicht gewachsen ist, zu irreparablen Schäden führen.
Weitaus nüchterner beurteilt ein Psychologe das Verlangen sich selbst zu prüfen und dabei zum mutigen Forscher und Eroberer seiner selbst zu werden. Auch die Tourismusbranche beschäftigt sich mit ähnlichen Gedanken. Laut einer Studie aus dem Vorjahr werde das allgemeine Entwicklungsniveau des Inlandstourismus in Russland nicht ausreichend gefördert. Dies sei laut Experten vermutlich einer der Gründe, warum sich anomaler Tourismus so durchsetzen konnte.
Stattdessen, so die Meinung von achtzig Prozent der befragten Fachleute, sollte dieser ungewöhnliche Tourismus zentralisiert und gestrafft werden. Dies könnte ihrer Meinung nach mehrere Probleme auf einmal lösen: Die Touristik-Unternehmen würden daran verdienen, dadurch auch mehr Steuern zahlen und die Teilnehmer wären in organisierte Expeditionen, die nach konformen Regeln durchgeführt werden, keinerlei Risiko ausgesetzt.
[mb/russland.REISEN]