Der gastronomische Tourismus ist das Sorgenkind all derer, die in Russland Tourismus und Gastgewerbe betreiben. Während die regionale Küche in anderen Ländern die Wirtschaft des Gebietes bewegt, erfährt sie in Russland praktisch keine Vermarktung Einer der wenigen Orte, an denen es gelungen ist, eine Unterhaltungsindustrie rund ums Essen zu schaffen, ist die Region Wladimir.
Es sei nicht alleine die Verwendung von speziellen Lebensmitteln während der Reise, die den Gastro-Tourismus ausmachen, versucht Wladimir Bakanow, der Vizepräsident des Bundesverbandes der Gastronomen und Hoteliers, einen Begriff zu erklären, der in Russland bislang weitgehend unbekannt war. Vorsichtshalber holt er dafür gleich etwas weiter aus, vielleicht weil auch er erst realisieren muss, dass die profane Nahrungsaufnahme durchaus einem touristischem Konzept gleichkommen kann.
„Ich wäre sehr angenehm überrascht, wenn es einen Touristenfluss gäbe, der nur, um etwas zu essen beispielsweise auf die Krim reisen würde. Ich garantiere, dass die Anwesenheit des Meeres immer der Hauptfaktor sein wird. Wenn eine Person am Meer war und etwas dort aß, dann ist das die gastronomische Komponente seiner Reise. Strandtourismus hat nichts mit gastronomischem Tourismus zu tun, aber wenn jemand auf die Krim kam und bewusst die ganze Zeit die Krim-Küche genoss, dann ist er ein gastronomischer Tourist“, so seine Botschaft an die Kollegen der Zunft.
Die amtliche Definition des guten Geschmacks
Bakanow ist sich dessen bewusst, dass nur wenige Menschen verstehen, was und wen er damit erreichen will. Diese Tatsache scheint nach wie vor das Hauptproblem des Gastronomie-Tourismus in Russland. „Was sind Feinschmecker“, fragt er deshalb zunächst, um die Antwort gleich hinterher zu schicken. „Sie sind Kenner und Liebhaber delikater Gerichte. Dies sind diejenigen, die Nahrung aus zwei Gründen konsumieren: Der erste ist Vergnügen und zweitens demonstrieren sie auf diese Weise ihren sozialen Status“, erklärt er das Klientel, dass er ansprechen und für sein Land gewinnen will.
Seinen Schätzungen zufolge, gebe es in Russland sechs bis acht Prozent, die sich als Feinschmecker bezeichnen. Bei den Franzosen zum Beispiel nehmen rund zwanzig Prozent das Prädikat für sich in Anspruch. Jetzt liegt, um beim Beispiel der Krim zu bleiben, die Region Wladimir zwar nicht am Meer, ist aber reich an Spuren der Geschichte und einmaliger Architektur.
In Alexandrowskaja Sloboda beispielsweise lebte im 16. Jahrhundert Iwan IV., heute verteilen Animateure Aufgaben für Kinder und Erwachsene, instruieren Brautjungfern für königliche Bräute. Es gibt ein Herrenhaus des Kurzwarenmagnaten Perwuschin, wo Schauspieler in Kostümen des 19. Jahrhunderts mit Touristen Crocket, Serpos und Gogol aufführen. Und hier liegt Susdal mit seinen Kirchen, Klöstern und vielen Schildern auf Chinesisch. Doch es kamen letztes Jahr auch rund fünf Millionen Touristen nicht alleine wegen der alten Zeiten.
Klöster und Kochtöpfe
Diese Touristen steuerten zielstrebig die mehreren Dutzend Festivals und Wochenendveranstaltungen an, die regelmäßig in der Region Wladimir stattfinden. Nicht weniger als ein Dritte von ihnen widmet sich ganz und gar den kulinarischen Besonderheiten des Landstrichs entlang der Sehenswürdigkeiten des Goldenen Rings.
Seit Brie und Parmesan von den Sanktion betroffen sind, hat die Käseherstellung durch Hobby-Enthusiasten erfolgreiche Kleinunternehmen entwickelt. In der Region Wladimir fanden sich Geldgeber, die bereitwillig die gastro-politische Entwicklung unterstützen, so dass im Sommer zum ersten Mal der große landwirtschaftlicher Festtag „Sirmarka“ stattfinden konnte. Initiator dieser Messe ist John Kopiski, einer der bekanntesten Käseproduzenten Russlands.
In den frühen 90-er Jahren gründete er eine Farm in der Region Wladimir, die mittlerweile fünfundzwanzig der bester Käser Russlands beschäftigt. Nach drei Jahre unter Sanktionen sei man jetzt in der Lage, Elite-Käse aus Russland zu produzieren, sagt Kopiski. Deshalb verantaltete man in Krutowo eine „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft“. Hier lassen sich außer Käse auch Gewürze und Beeren sowie harte und weiche Spirituosen probieren und kaufen.
Und vor allem Hauslieferungen, beziehungsweise Abonnements, bei den Hersteller bestellen, die viele kleine Molkereien inzwischen anbieten, um mit der Direktvermarktung unmittelbar an Verbraucher zu verdienen. Die rege Nachfrage der Kunden gibt dieser Idee positive Nahrung.
Käse im Abo und Gurken aus der Pfanne
Ebenfalls in den Top Ten der beliebtesten russischen Gastro-Festivals und kulinarischen Ferien rangiert laut der Analyseagentur „Tour Stat“ neben „Sirmarka“ auch die „Gurkenferien“ in Susdal. Jeden dritten Samstag im Juli können Besucher frische und eingelegte, gesalzene und gedämpfte, zu Pasteten gebackene und in Suppen gegarte Gurken probieren oder sich an Marmeladengurken laben. Seit seiner Erstveranstaltung im Jahr 2001 hat das Festival allerhand Nebenveranstaltungen in Form von Konzerten und Performances mit namhaften Künstlern der Region um sich geschart.
An diesem Tag verdreifachte sich die Bevölkerung von Susdal zuletzt um nahezu 18.000 Besucher, die nicht nur aus Russland, sondern auch aus Deutschland und China kamen. Die Hauptattraktion des Gurkenfestes ist die bedeutendste gastronomische Spezialität von Wladimir – gebratene Gurken. Sie werden in Zucker und Salz zubereitet und schließlich mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Fisch oder Fleisch serviert. Nachahmer des Festes haben sich bereits in Luchowizi, außerhalb von Moskau, und in Lipezk gefunden.
Die Stadt Murom wiederum gilt als der Geburtsort der Kalatsch, einem Gebäck in Brezenform, das nach dem russischen Wort für eine Flussschleife benannt ist. Das Rezept wurde vermutlich im 14. Jahrhundert von den Tataren entlehnt. Im Jahr 2012 ersetzte das Backen eines 100-Pfund-Laibes des Brotes im Stadtzentrum die Heizung, da die Ofentemperatur damals auch im Winter bei 35 Grad Celsius gehalten wurde. Im selben Jahr begann man in Murom das inzwischen jährlich stattfindende Kalatsch-Fest zu feiern, das traditionsgemäß auf den ersten Montag im August fällt.
Brot für alle und geweihte Äpfel
Direkt an der Straße werden zum Fest Öfen installiert, in denen Besucher ihre Murom-Kalatschi selber backen können, um dann an einem Wettbewerb teilnehmen. Für diesen Tag werden unzählige Kuchen vorbereitet, die am Festtag verkauft werden. Darunter natürlich auch der klassische Murom, dessen Teig lange auf Eis gerieben wird, bis das Kohlendioxid verdampfte ist, was dem Kuchen seine berühmte Porosität verleiht. Die Geschichte des legendären Ilja Muromez gibt es quasi als Dreingabe dazu.
Eines der ersten Erntefeste in Russland fällt auf den 19. August. Erst ab diesem Tag durften die Ostslawen einem Volksglauben zufolge von den Äpfeln der neuen Ernte essen. An dem „Apfelretter“ genannten Tag werden die Früchte in der Kirche geweiht und danach auf einer großen Tafel zum Festessen arrangiert. Diese kulinarische Tradition, bei der es Bratäpfel, Kuchen und Blinis mit Äpfeln und Apfelmarmelade zuhauf gibt, wird in Susdal beim Spaso-Evfimiev-Kloster zelebriert.
Die Messe und das anschließende Fest werden von Kinderwettbewerben, Workshops und Exkursionen in den klösterlichen Apothekergarten begleitet. Zeitgleich mit dem „Apfelrettertag“ in Susdal werden die Äpfel im Gebiet des Dorfes Dawydowo Kameschkowskogo geehrt. Der Ablauf ist in etwa derselbe, mit dem Unterschied, dass anstelle von Klöstern und Kirchen nach dem Festmahl das Haus des Komponisten Borodin und des Schriftstellers und Malers Udalow-Mitin besichtigt werden können.
Kulinarische Events locken Besucher an
Der russische Name „Medowucha“ lässt die Bestimmung des Honigfestes in Susdal bereits erahnen: Es werden Unmengen Met ausgeschenkt. Dieses in nicht geringen Maßen alkoholische Honiggetränk wird in Susdal traditionell seit Jahrhunderten vergoren. Darüber hinaus versammeln sich Dutzende von Bauern und Erzeuger auf dem Fest, das seit drei Jahren mit Unterstützung des Reiseveranstalters Intourist stattfindet und bereits über 6.000 Gäste aus dem In- und Ausland, besonders aus China, anlockt.
Dieses Mal waren auch erstmals die elf Produkte der „Gastronomischen Karte Russlands“, vom Autobauer „GAZ“ entworfene Foodtrucks mit Gerichten von Köchen aus ganz Russland auf einer 12.000 Kilometer-Tournee, zur Stippvisite in der Wladimir-Region.
Es bleibt als letztes Beispiel noch das „Fest des Nikita Gusjatnikow“ in Gus-Chrustalny zu erwähnen. Das hier beheimatete Wladimir Scientific Research Institute of Agriculture hält mit 23 Arten den gesamten Gänse-Genpool Russlands. Was also liegt näher als die Gans zum Thema des Festes zu machen: Das Hauptgericht des Straßenfestes ist gefüllte Gans. Die Vögel werden an Ort und Stelle vorbereitet und gebraten.
Ihre besondere Note erhält die Festgans durch ein Rübengetränk. Aber natürlich ist das Fest auch mit dem eigentlichen Erwerbszweig der Stadt verbunden – dem Glashandwerk. Manufakturen und Kunsthandwerker bieten ihre kristallenen Kunstwerke feil und wer sich selbst an der Verarbeitung des filigranen Materials versuchen will, findet hier zahlreiche Möglichkeiten und ist herzlich eingeladen.
Auch wenn Essensstände auf Festivals nur einen kleinen Teil der kulinarischen Besonderheiten einer Region widerspiegeln, so können sie dennoch den Besucher die Lust auf mehr vermitteln. Und es schlummert, um an die Worte des des Bundesverbandes der Gastronomen und Hoteliers anzuknöpfen, noch viel Unbekanntes in den Pfannen und Töpfen Russlands, was nur darauf wartet, auf die Teller von Feinschmeckern gebracht zu werden.
[mb/russland.REISEN]