Das Tourismus-Paradies Baikal kollabiert

Normalerweise bleiben die Touristen aus, wenn eine Region nicht zweckentsprechend erschlossen ist. Im Fall des Baikalsees ist es genau umgekehrt. Hier boomt der Tourismus, dafür steht die ganze Umgebung des größten Süßwassersees der Erde auf der Kippe. Es fehlt an allen Ecken und Enden die dementsprechende Infrastruktur.

Scharenweise pilgern die Touristen auf die Insel Olchon an der Westseite des Baikalsees. Mit ihrer Fläche von 730 Quadratkilometer ist sie nicht nur die größte Insel im Baikal, sondern auch die vom Fremdenverkehr meist frequentierte. Die außerordentlich reizvolle und abwechslungsreiche Landschaft lockte im 19. Jahrhundert zunächst Forschungsreisende und ab Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt Touristen an. Mit dem Millennium wurde aus der einstigen Beschaulichkeit eine touristische Katastrophe. Mit dem Massentourismus kamen plötzlich die Probleme.

Wer zu der Postkartenidylle des Baikalsees gelangen will, muss zunächst harte Strapazen auf sich nehmen. Die Straße vom Fährhafen nach Chuschir, dem Hauptort auf der Insel, ist eine einzige Herausforderung für Mensch und Maschine, die nach 35 löchrigen Kilometern in einem unansehnlichen Straßendorf endet. Erst dahinter ragt der berühmte „Schamanenstein“ aus dem tiefblauen Wasser des Baikalsees in die Höhe. Der ehemals heilige Ort der hier ansässigen Burjaten wird inzwischen von gefühlten Myriaden an Touristen jährlich heimgesucht.

Wenn der Massentourismus in der Provinz einfällt

Eine Invasion von Hunderttausenden überrennt die 1350 ganzjährigen Einwohner von Chuschir jedes Jahr buchstäblich wie Heuschrecken. Wie viele es genau sind vermag ohnehin niemand genau zu sagen. Erfasst und gezählt wurden sie noch nie. Und sie bringen auch nicht den erhofften Segen für die Einwohner der Insel, wie sie vor gut zehn Jahren noch geglaubt hatten. Sie sind daran schuld, so sagen sie, dass die Straße in so einem erbärmlichen Zustand ist. Das ist zwar richtig, aber eben auch nur die halbe Wahrheit. Seit 2006 hat die Insel einen festen Stromanschluss, der vom Festland aus gespeist wird. Seitdem interessieren sich Investoren aus dem In- und Ausland für das Eiland.

Eine Firmengruppe aus China kündigte Ende 2016 an, elf Milliarden Dollar in die touristische Entwicklung des Baikalsees zu investieren. Das war die vorläufige Spitze des Eisbergs. Bei dem jüngsten Anstieg um fast 50 Prozent auf über 700.000 Besucher der Region werden weitere Investoren nicht lange auf sich warten lassen. Sie lockt das Geld, das mit den Touristen zu verdienen ist. Die Bewohner der Insel jedoch steht der Sinn hingegen mehr nach einer vernünftigen Infrastruktur, um der Massen Herr zu werden. Zudem sehen sie, nicht zu unrecht, das Ökosystem der Baikal-Region gefährdet. Ökologen geben ihnen recht.

„Wir haben sehr viele Touristen, aber überhaupt keine Infrastruktur“, sagt auch Vera Malanowa, die Bürgermeisterin von Chuschir. Man sehe hier deutlich, sagt sie, was geschieht, wenn der Massentourismus Russlands unterentwickelte Provinz heimsucht. Hotelanlagen schießen zwar wie Unkraut aus dem Boden, die Straße jedoch ist immer noch miserabel. Das gehe auch ins Geld, erklärt Malanowa. Die Kosten für die ständigen Reparaturen an Müllwagen und Krankenautos seien horrend, das Geld dafür habe die Gemeinde nicht. Hinzu kommt, dass die Insel weder über eine legale Mülldeponie noch über eine Kanalisation verfügt.

Müll und ungeklärte Abwässer

Die entsorgten Hinterlassenschaften der Touristen, die einen hier auf Schritt und Tritt begleiten, sind nur die augenscheinlichsten Signale des sich anbahnenden ökologischen Overkills der Baikal-Region. Zwar wurde eine Zellulosefabrik, die in Sowjetzeiten noch als Inbegriff der Umweltverschmutzung galt, 2013 stillgelegt, mit den Altlasten hat der See jedoch immer noch zu kämpfen. Auch die häusliche Abwasserentsorgung liegt im Argen. Trotz Verpflichtung per Gesetz leiten die Hotelkomplexe ihre Abwässer ungeklärt ins Grundwasser ein. Mit der Folge, dass das Wasser von Chuschir so verschmutzt ist, dass man es seit einigen Jahren nicht einmal mehr trinken kann.

Eine weitere offene Baustelle im Ökosystem Baikal ist der Nationalpark. Gut die Hälfte der Insel Olchon ist als besondere Schutzzone ausgewiesen. Dennoch ist die einst legendäre Artenvielfalt der Insel inzwischen stark geschrumpft. Die Umweltaktivistin Gala Sibirjakowa beklagt, dass es an geschultem Fachpersonal mangele, um den Naturpark effektiv zu betreuen. Und tatsächlich bleibt es nur einem einzigen Ranger überlassen, zu kontrollieren, ob sich die Besucher an die Regeln halten. Horden wilder Camper hinterlassen deutlich sichtbare Spuren.

Offroad-Gaudi und Discozelt

Die Fahrt mit dem Allrad-Wagen durch die verletzlichen Dünenlandschaften ist obligatorisch, geschützte Bäume dienen als Feuerholz, der Müll bleibt einfach liegen. Wilderer und illegale Holzfäller besorgen den Rest. „Der Nationalpark hat kein Interesse daran, Gebiete besser zu schützen, im Gegenteil“, schätzt Sibirjakowa. Seit 2011 sind die Nationalparks gesetzlich verpflichtet, auf ihre Profitabilität zu achten. Zu diesem Zweck können sie sogar Gebiete zur touristischen Erschließung verpachten. Am berühmten „Schamanenstein“ gibt es die traditionellen Rituale nur noch gegen Bares, ein Zaun umspannt das 2015 dort gebaute Luxushotel mit Terrasse direkt am See. Den Abend feiert man im raumschiffartigen Discozelt.

Letztlich habe wohl niemand ein wirtschaftliches Interesse daran, irgendwelche Begrenzungen einzuführen, so die Umweltaktivistin an die Adresse der örtlichen Behörden. „Die Lokalregierung verdient zulasten der Umwelt am unregulierten Geschäft zünftig mit“, prangert die Mittvierzigerin an. Die Bürgermeisterin muss zugeben, dass es ein Dilemma zwischen Wachstum und Umweltschutz gebe. Angeblich sei die Gemeinde jedoch machtlos. „Die Bautätigkeit auf dem Gemeindegebiet ist legal, der Rest liegt in der Verantwortung des Nationalparks, und da muss Moskau entscheiden“, wehrt sich Malanowa gegen die Vorwürfe.

Gala Sibirjakowa indes weiß, wovon sie redet. Sie stammt aus dem ehemaligen Fischerdorf Listwjanka, das touristisch schon weitaus deutlicher als Olchon entwickelt ist. Der Ort am Südwest-Ufer des Baikalsees erstickt durch den Tourismus aus der nahen Provinzhauptstadt Irkutsk. Nichts erinnert mehr an den dörflichen Charme von einst, eine Bausünde reiht sich an die andere. Dutzende von Ständen verkaufen marktschreierisch dieselben billigen, kitschigen Souvenirs „Made in China“. Ganz davon zu schweigen, dass das Gewässer in der Uferzone bei Listwjanka ökologisch tot ist. Heute wird der einst glasklare See von einem Algenteppich bedeckt, dessen Ursprung sich niemand erklären kann.

Wissenschaftler machen neben der Umweltverschmutzung den Klimawandel dafür verantwortlich. Seit 1977 ist die Temperatur des Baikalsees durchschnittlich um zwei Grad gestiegen. Zur Hälfte geschrumpft ist auch der Bestand des Olmus, einer Fischart der nur im Baikalsee vorkommt und als Delikatesse gilt. Die russische Regierung beschloss auf Grund dessen im Oktober letzten Jahres ein absolutes Fangverbot zu erlassen. Mehrere hundert Millionen Euro, die in die Reinigung des Sees gesteckt wurden, versickerten jedoch im politisch-wirtschaftlicher Filz. Illusionen macht sich Sibirjakowa deshalb schon lange nicht mehr.

[mb/russland.REISEN]